Abend (1650) - Andreas Gryphius

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1. Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Andreas Gryphius 2. Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen
3. Verlassen feld und werck / Wo Thier und Vögel waren
4. Trauert itzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

5. Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
6. Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
7. Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
8. Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

9. Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Laufplatz gleiten
10. Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht luft / nicht angst verleiten.
11. Dein ewig heller glantz sei von und neben mir /

12. Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen /
13. Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /
14. So reiß mich auß dem thal der Finsternuß zu dir.

Gedichtprofil

Allgemein
Name: Abend
Autor: Andreas Gryphius
Veröffentlicht: 1650
Epoche: Barock

Formal
Verse: 14
Strophen: 4
Metrum: sechshebiger Jambus
Reimschema: abba, abba, ccd, eed
Reimart: Umarmender Reim, Schweifreim
Kadenz: männlich und weiblich

Sprachlich/Stilistisch
Wortfelder: Mensch, Jenseits
Adjektive: schnell, müde, wenig,
Tempus: Präsens, Präteritum
Stilmittel: Emblem (Überschrift), Alliteration (V.2), Polysyndeton (V.3, 7), Personifikation (V.4), Exclamatio (V.4), Allegorie (V.5), Repetitio (V.5), Anapher (V.9,10,11), Pleonasmus (V.11), Euphemismus (V.12)

Erzähler
Lyrisches Ich: Ja
Perspektive: auktorial
Haltung:

Analyse und Interpretation

Das Sonett "Abend" von Andreas Gryphius (1616-1664), im Jahr 1650 verfasst, handelt von einer nahen Jenseitserfahrung des lyrischen Ich's. Zeitlich lässt es sich eindeutig in die Literaturepoche des Barocks einordnen.

Nach meinem ersten Leseverständnis will der Autor mit seinem Gedicht zum einen auf die Vergänglichkeit (Vanitas) des menschlichen Lebens, zum anderen auf den baldigen Tod (Memento Mori) und dem damit verbundenen Leben im Jenseits hinweisen.

Das Gedicht ist in der typischen Sonettform des 17. Jahrhunderts aufgebaut (siehe Martin Opitz, Buch der deutschen Poetery) und besteht deshalb aus 14 Versen, die sich wiederum in zwei Quartette, sowie zwei Terzette gliedern. Metrisch betrachtet liegt durchgehend ein sechshebiger Jambus (unbetont, betont) vor, der für zahlreiche Gedichte Gryphius' typisch ist. Dieser Alexandriner drückt besonders das "kunstvolle Verhältnis" zwischen Metrik und Inhalt aus. Das Reimschema in den Quartetten lautet abba und ist demzufolge ein umarmender Reim. In den beiden Terzetten liegt dagegen ein Schweifreim mit dem Schema ccd eed vor. Die Kadenzen sind nicht regelmäßig, da die Silbenanzahl manchmal gerade und manchmal ungerade ist.

Betrachtet man zu Beginn der Interpretation die Überschrift, fällt mit Einbezug der typischen Barock-Emblematik der "Abend" in ein ganz anderes Licht. Denn er steht stellvertretend für den Lebensabend, ergo den letzten Jahren eines Lebens. Deutlich wird dies neben dem Emblem des "port(s)" (V.5) auch an der erkennbaren Sehnsucht des lyrischen Ichs, in das Jenseits zu gelangen (V.14).
Das erste Quartett des Sonetts ist deutlich antithetisch aufgebaut. Zuerst stehen sich "Tag" und "Nacht" unmittelbar gegenüber. Auch hier lässt sich mit Hilfe der Emblematik der Hintergrund deuten. Der "schnelle Tag" (V.1) steht für die Vergänglichkeit des Lebens auf der Erde. Die "Nacht" (V.1) als extremer Gegensatz für den Tod, der unmittelbar an das Leben anknüpft. Dies wird speziell dadurch deutlich, dass beide Nomen im selben Vers vorzufinden sind und deshalb keine wirkliche Trennung zwischen beiden besteht. Das Leben an sich, mit all seinen Facetten, fehlt in diesem Zusammenspiel also gänzlich. Ein Enjambement führt den Zusatz "Und führt die Sterne auff" (V.2) an die Thematik heran. Vermutlich stehen die Sterne für die einzelnen Seelen, die vom Diesseits ins Jenseits übergehen, also das Irdischen Verlassen und fortan im Überirdischen leben. Danach präzisiert das lyrische Ich den Abend auf ein Beispiel. Von der Arbeit müde gewordene Menschen verlassen ihre Arbeit und zurück bleibt lediglich "Einsamkeit" (V.4). Auch diese Passage ist emblematisch zu verstehen und bedeutet im übertragenen Sinne, dass die vom Leben "müde" (V.2) gewordenen Menschen das irdische Leben Verlassen. Die Alliteration "Menschen müde" (V.2) unterstreicht das harte Leben dieser Menschen, das eigentlich nur Unnütz war, betrachtet man die Exclamatio "Wie ist die Zeit vertan!". Letztendlich war das Leben also umsonst und hat keinerlei Mehrwert mehr für die Nachwelt.
Im zweiten Quartett wird dann unmittelbar das Memento Mori Motiv deutlich. Der "port" (V.5) als Allegorie für das Ziel, das nach dem Tod erreicht werden muss. Erneut zeigt sich eine Emblematik in Form des "Kahn(s)" (V.5), der wie ein "Spielball" auf den Wellen hin und her geschleudert wird. Dies symbolisiert das unentwegt schwierige Leben mit Höhen und Tiefen. Paradox klingt auch die Wortkombination "licht verfiel" (V.6), dass vermutlich für die langsam schwindende Lebensenergie steht, bis der Tod und damit auch die Nacht (V.1) eintritt. Niemand kann sich diesem Schicksal entziehen, was die polysyndetische Aufzählung in Vers 7. eindrucksvoll darstellt. Abgeschlossen wird das zweite Quartett durch eine fast klagende Stellungnahme des lyrischen Ichs. Das Leben wirkt wie "eine renne bahn" (V.8), an dessen Ende doch niemand gewinnen kann, da dort für alle der Tod "wartet" und alles, nach Vorstellung der Religion, im Jenseits neu beginnt.
Im ersten Terzett wird daraufhin die Klage konkretisiert und verlangt, dass Gott das lyrische Ich nicht weiter auf der Erde lassen soll, sondern dass er (Gott) ihn von den Qualen (V.10) erlösen soll (V.14). Die Forderung seitens des lyrischen Ichs sind an den Anaphern (V.9, 10 und 12) zu erkennen. Das lyrische Ich fordern ihn (Gott) geradezu auf, es von den Sorgen des irdischen Lebens zu erlösen. Die Epoche des Barock war für viele Menschen eine Zeit der Ungewissheit. Der 30-jährige Krieg überschattete das Leben mit Krieg, Hungersnot und Pest. Gerade deshalb bedeutete für viele Menschen der Glaube an die Religion und das damit erhoffte Leben nach dem Tod, Hoffnung auf eine bessere Welt. Deutlich wird dies in Vers 11 und durch den Pleonasmus "heller glantz", der allzeit präsent sein soll.
Der Euphemismus "entschläfft" (V.12) für sterben macht darüber hinaus klar, dass der Tod nicht das Ende des Lebens sein kann, da der "müde Leib" (V.12) nur eingeschlafen ist und demzufolge (im Jenseits) wieder aufwacht. Der "Seele" (V.12) kommt dabei eine ganz besondere "Aufgabe" zu, denn sie ist nach der Vorstellung das einzige, was der Tote in das Jenseits mitnimmt. Des Weiteren scheint die erneute Verwendung des "Tag(s)" interessant, weil er diesmal in direkter Verbindung mit dem "abend" (V.13) vorkommt. Zum einen ist es die Bestätigung, dass schon die Überschrift auf den emblematischen Hintergrund abzielt, zum anderen zeigt dies das irdische Ende des Lebens mit der Hoffnung auf das Jenseits. Die Metapher "thal der Finsternuß" (V.14) weist erneut auf die depressive und ängstliche Stimmung hin, die zur Zeit des 30-jährigen Krieges für die Menschen eine absolute Qual gewesen sein muss. Aber wie das Wort "thal" (V.14) schon aussagt, geht es irgendwann (mit dem Erreichen des Jenseits) wieder bergauf.

Andreas Gryphius ist mit seinen zahlreichen Barockgedichten , neben Martin Opitz, einer der wichtigsten und populärsten Barocklyriker damals wie heute. Die normative Poetik, die er anwendet, zeichnet sich vor allem durch das kunstvolle Zusammenspiel von Inhalt und Form aus. Viele emblematische Bilder verdeutlichen auf eine sehr besondere Art und Weise die Schrecken und Ängste zur Zeit des Barock. Jedoch sind Gryhphius' Gedichte keine Erlebnislyrik. Sie zielen vielmehr auf kunstvolle Reflexion der Geschehnisse ab. Man wundert sich fast, dass trotz der vielen schlimmen Geschehnisse noch eine derart hochwertige Lyrik verfasst wurde.
Mir persönlich gefällt das Gedicht sehr gut, da es durch die Bilder (z.B. das des Ports) eine unverwechselbare Note erhält und die besonderen Stilmittel (Pleonasmus, Polysyndeton oder Euphemismus) heutzutage in der Lyrik kaum noch vorkommen.