Das Gedicht "Weltende" von Jakob van Hoddis, beschreibt eine nahe Katastrophe zur Zeit des
Expressionismus (veröffentlicht 1911).
Nach meinem ersten Leseverständnis möchte van Hoddis mit seinem Gedicht ausdrücken, wie
hoffnungslos und irreal, die für ihn aktuelle Zeit des Expressionismus ist, sodass nur ein
apokalyptisches Weltende diesem Leiden ein Ende setzen kann.
Die erste Strophe berichtet über die Vorboten des unweiten Weltendes. Dies beinhaltet starke
Stürme (V.1,2) und ein steigen des Meeresspiegels (V.4). In der zweiten Strophe ist das Ende
der Welt dann schon fortgeschrittener als zuvor. Die Flut zerdrückt die Dämme an den Küsten (V.6)
und Eisenbahnen fallen von den einstürzenden Brücken (V.8)
Aufgebaut ist das Gedicht in zwei Strophen mit je vier Versen. Das Reimschema lautet "abba cdcd"
und die Reimart ist demnach in der ersten Strophe ein umarmender Reim und in der zweiten Strophe
eine Kreuzreim. Metrisch gesehen liegt ein fünfhebiger Jambus vor, der in der zweiten Strophe
Unregelmäßigkeiten aufweist. Die Kadenzen sind ebenso wie die Reimarten in den Strophen
unterschiedlich. So liegen in den ersten vier Versen männliche Kadenzen vor, die in der zweiten
Strophe dann alle weiblich sind.
Betrachtet man vorab der eigentlichen Interpretation die Überschrift, so lässt diese im Hinblick
auf die folgenden Verse nur ein dunkles Bild zu.
Beginnend mit Strophe 1 zieht langsam ein Unwetter heran, dass dem Bürger von seinem spitzen Kopf
den Hut wegbläst (V.1). Die Verbindung des spitzen Kopfes und des Hutes, lässt die wage Vermutung
einer Art Pickelhaube (Symbol für Deutschland und das Kaiserreich) zu.
In der Zeit als das Gedicht veröffentlicht wurde, kam nicht nur die Pickelhaube immer mehr aus der
Mode (aufgrund ihres schlechten Schutzes gegen Granatsplitter), sondern auch das deutsche
Kaiserreich kam in die Kritik.
So fliegt der Hut bedingt den aufbrausenden Wind, der vermutlich für etwas Revolutionäres
und Neuartiges steht, vom Kopf.
Im zweiten Vers werden die "Lüfte" mit schrillendem "Geschrei" verglichen, sodass die
Straßen von flüchtenden Menschen bevölkert ist, die versuchen sich vor der angehenden
Katastrophe in Sicherheit zu bringen.
Der heftige Wind wirft jene aus dem Alltagstrott, die für die Infrastruktur verantwortlich
sind und als Synonym für einen Aufschwung gelten (V.3). Van Hoddis fordert eine Rückentwicklung
der Gesellschaft um so über Umwege den Fortschritt zu erreichen. Vergleichbar mit der Bibel muss
folgerichtig erst die Sintflut kommen, damit sich etwas von Grund auf ändern kann.
Beschönigend und ironisch brechen im Gedicht die Menschen "entzwei" (V.3) und es scheint
niemanden sonderlich davon Kenntnis zu nehmen. Auch die Erzählhaltung bleibt kühl, wertfrei
und beschreibt, als wäre es nichts Ungewöhnliches.
Absolut distanziert und fern wirkt das steigende Meer an den Küsten (V.4). Die Menschen
reizt diese nahende Katastrophe nicht, da man sie nicht vor Augen hat, sondern nur in der
Zeitung liest. Überträgt man das steigen der Flut auf Deutschland, so drückt eine externe
Gefahr auf das deutsche Kaiserreich, explizit an den Grenzen, ein.
Der Übergang von der ersten Strophe auf die zweite Strophe wirkt sich nicht nur inhaltlich aus.
So wechseln unerwartend Reimart, Kadenz und eine zusätzliche Silbe kommt in den Versen 5,6,7
und 8 hinzu. "Zerjagd" wird das ganze noch durch ein Enjambement zwischen den Versen 5 und 6.
Was in Strophe 1 noch formal, pedantisch und geordnet schien, gerät nun leicht aus dem Ruder.
(Erklärbar durch das Weltende, das nun durch Naturgewalten seine Macht demonstriert (V.5) und
alles vorher da gewesene zerstören will. (V.6) )
Die Alliteration ("dicke Dämme zu zerdrücken) verstärkt die Macht und den Einfluss der Kraft,
die vor den zwar dicken, aber nicht unüberwindbaren Dämmen, den Untergang einleiten will. (V.6)
Zu dieser Zerstörung kommt es jedoch nicht, bzw. nicht offensichtlich und so entschärft van
Hoddis das apokalyptische Szenario mit den Worten "Die meisten Menschen haben einen Schnupfen" (V.7).
Offensichtliche Kritik wird an der Maschinerie deutlich. (V.8) Dabei erinnert der letzte Vers
stark an die Ballade "Die Brücke am Tay" von Theodor Fontane und warnt vor Selbstüberschätzung
im Hinblick auf den Technischen Fortschritt.
Untersucht man das Gedicht von van Hoddis bezüglich der Wortfelder, fallen zwei größere Bereiche
ins Gewicht. Der Mensch (Bürger, Kopf, Hut, Dachdecker, Schnupfen) und die Natur (Meer, Küste,
Flut, Lüfte) sind als direkter Gegensatz präsent und wechseln sich abhängig des Verses ab
(Ausnahme 2. Strophe).
Das Gedicht behilft sich Zahlreichenden Symboliken um sich in seiner eigentlichen Intention
auszudrücken. Die Kritik an der Gesellschaft wird z.B. durch den "spitzen Hut" (V.1) oder die
abstürzenden "Dachdecker" (V.3) projiziert.
Verharmlosend und ironisiert stellt van Hoddis zudem das "entzwei" (V.3) gehen der Dachdecker
und das "hupfen" (V.5) des Meeres dar.
Des Weiteren "enttarnt" sich der Erzähler im vierten Vers mittels einer Parenthese. Dabei
schiebt van Hoddis den Satzteil "liest man" innerhalb des Verses ein und wertet damit
kritisch das reflektierte im Gedicht.
Setze Ich mich erneut mit meiner Interpretationshypothese auseinander, so wurde ich nur
teilweise bestätigt. Der Hintergrund des Gedichtes lässt sich erst nach einer genauen
Interpretation erschließen, indem man den historischen Hintergrund mit einbezieht.
Das bröckelnde Kaiserreich, sowie eine Kritik am technischen Fortschritt und deren maßlose
Selbstüberschätzung, stört van Hoddis und lässt ihm von etwas neuem Träumen. Dafür braucht
es nach ihm aber ein Weltende, damit man ganz von neu anfangen kann. Dass es mit dem alten
"Personal" anscheinend nicht funktioniert, zeigen die abgestürzten Dachdecker.
Ob man das projizierte Horrorszenario von ihm Ernst nehmen kann, bleibt offen. Van Hoddis
zeigt sich mit Aussagen "Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei" (V.3) oder "Die meisten
Menschen haben einen Schnupfen" (V.7), stark ironisch.
Im Gegensatz zur Großstadtlyrik des Expressionismus, beschäftigt sich van Hoddis in seinem
Gedicht Weltende nicht mit der Stadt. Trotzdem gilt er als Wegbereiter des frühen Expressionismus,
trat aber während der Epoche durch eine Psychose in den Hintergrund.