Das Sonett "Blauer Abend in Berlin" von Oskar Loerke zur Zeit des Expressionismus verfasst und
veröffentlicht, handelt über einen Vergleich der Stadt mit dem Wasser.
Nach meinem ersten Leseverständnis versucht Oskar Loerke mit seinem Gedicht zu beschreiben, wie
einförmig und vorbestimmt das Leben in der Großstadt ist. Dabei kann man sich nicht aus seinem Schicksal
entreißen, sondern muss sich in die Masse des Stadtlebens einreihen.
Die erste Strophe schildert die kurvenlosen Straßen in der Stadt (V.2). Geradlinig laufen sie durch die
Metropole zwischen den Häusern entlang. Dabei gleichen die Kuppeln mancher Bauwerke den Bojen auf dem Meer
und die Schornsteine (Schlote) den Pfählen im Wasser (V.4).
Das zweite Quartett beschreibt die Luftverschmutzung der Fabriken (V.5) und die Menschen, wie sie auf engstem
Raum leben (V.7) und dabei von besseren Dingen träumen (V.8).
Im folgenden Terzett wird die Willkür einer höheren Macht deutlich (V.10), die die Menschen (Sie realisieren
es zwar, sind dieser Macht aber ausgeliefert) nach Belieben beherrscht.
So sind die Menschen im abschließenden Terzett zwar alles Individuen, sind aber im System fest verankert und
müssen sich der höheren Macht beugen (V.13; 14).
Das klassische Sonett, wie es hier von Oskar Loerke angewandt wird, besteht aus 14 Versen. Diese sind in zwei
Quartette und zwei Terzette aufgeteilt, sodass eine Inhaltliche und Formale Zäsur (Einschnitt) in dem Gedicht
entsteht. Des Weiteren liegt ein fünf-hebiger Jambus mit weiblichen Kadenzen vor. Das Reimschema lautet abba,
cddc, eff, eff. Demnach liegt in den Quartetten ein umarmender Reim vor. In den beiden Terzetten, deren Reime
Strophen-übergreifend sind, ist ein Schweifreim gegenwärtig.
Im ersten Vers beginnt Loerke metaphorisch mit der Beschreibung der Stadt. Die Steinernen Kanäle stehen für die
riesigen Gebäude, die so hoch in den Himmel ragen, dass der Himmel darin fließen kann (V.1). Der Mensch greift
demnach in die Natur ein und pflastert sie mit Gebäuden und Straßen zu (V.2), sodass die Natur an sich zwar noch
existiert, aber unter der Obhut und der Macht des Menschen steht (V.3). Auch im vierten Vers beschränkt sich Loerke
mit dem Vergleich von Stadt und Wasserlandschaft um dem Leser die Landschaft bildhafter zu verdeutlichen. Die großen
Kuppeln (V.4) der Gebäude gleichen den Bojen, die auf dem Meer den Seefahrern den Weg weisen, aber primär zum Schutz
vor Kollisionen und unsichtbaren Risiken aufgestellt werden. So wirken die Bojen bedrohlich, denn sie warnen vor nicht
absehbaren Gefahren.
Durch die Schornsteine (Schlote), die den Holzpfählen im Wasser ähnlich sehen, könnte diese zwar nicht ganz unsichtbare,
aber absehbare Gefahr ausgehen. Das Enjambement zwischen den Versen vier und fünf verbindet die beiden Strophen und es
geht mit dem Vergleich der Stadt und dem Meer, auch im zweiten Quartett weiter.
Eine Interpunktion (V.5), bedingt durch das Enjambement, stört zu Beginn den fließenden Ablauf des Gedichts, sodass sich
volle Aufmerksamkeit den darauf folgenden Worten widmet. Die bedrohlichen Schwarzen Essendämpfe (der Rauch der Schornsteine)
qualmen in Vers 5 vor sich hin und werden mit Wasserpflanzen (V.6) verglichen. Dadurch wird die eigentliche Gefahr in etwas
Harmloses umgemünzt, dass man beruhigt und faszinierend beobachten kann.
Menschen die auf engstem Raum leben und sich in dem begrenzten Platz der Stadt aufhalten (V.7), träumen von einem besseren
und reizvollen Leben in Freiheit (V.8). So verdeutlicht der frappante Gegensatz zwischen den "Schwarzen Essendämpfe" (V.5)
und dem imponierenden "Himmel" (V.8) zuerst die bittere Realität und dann den Wunsch, dieser Wirklichkeit zu entfliehen.
Ein akustisches Stilmittel (Synästhesie), das die Farbe Blau und Melodien verbindet, eröffnet das erste Terzett.
Die Menschen werden von etwas Übersinnlichen beherrscht und geleitet, da das Blaue für die Beziehung zwischen Irdischem
und Überirdischem steht. Also für die Welt, die aus vielen Menschen besteht und für einen Gott, der über jeden dieser Menschen wacht.
Jedoch werden die Menschen in der Stadt nicht als Individuum, sondern als Masse betrachtet, die nun hilflos und ohne
Chance auf ein entrinnen aus der Stadt, als "Bodensatz und Tand" (V.10) "Umherrschwimmen". (Unter Tand versteht man etwas
ansehnliches was aber ohne Wert ist)
In der letzten Strophe läuft alles erneut auf die Willkür und Verfallenheit hinaus, die alle "Stadtmenschen" unterliegen.
"Im Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen" (V.12) läuft ein immer wiederkehrender Prozess ab, aus den man sich nicht
befreien kann. Monoton und gleichzeitig gefangen in einem ewigen Kreislauf gibt es nicht den einzelnen, sondern nur
das kollektiv (V.13 "grober, bunter Sand).
Harmonisch endet das Gedicht dann auch mit der Personifikation der linden und schonenden Wellenhand, die mit Bedacht
die totale Kontrolle über die Stadt und die darin lebenden Menschen zu haben scheint.
Untersucht man die Wortfelder so gibt es insgesamt zwei große, und ein kleines Spektrum von angewandten Wortgruppen.
Im direkten Gegensatz steht die Natur (Himmel, Wasser, Wasserpflanzen, Bodensatz, bunter Sand) und die Stadt (Kanäle,
Straßen, Kuppeln, Schlote, Essendämpfe). Inmitten dieser "Rivalität" finden sich im letzten Terzett Menschliche
Attribute (Mensch, Wellenhand).
Wie schon die Wortfelder haben auch die Adjektive zwei Gegensätze. So dominieren zwar überwiegend dynamische Adjektive
(fließend, steil, schwelend) jedoch stehen ihnen statische Adjektive gegenüber (steinern, gemengt). Fortführend lassen
sich noch Adjektive finden die etwas im Kollektiv beschreiben (grob, bunt, gemengt, groß). Das verstärkt die Wirkung
des unwichtigen Menschen als Einzelwesen.
Rhetorische Stilfiguren benutzt Loerke zahlreich. So beginnt er das Gedicht mit der Metapher "Der Himmel fließt in
steinernen Kanälen" und verknüpft dabei zwei unterschiedliche Bildbereiche (Natur - Stadt). Ein Enjambement (Zeilensprung)
lässt sich zwischen den beiden Quartetten finden. Im Übrigen verwendet Loerke viele Vergleiche (V. 4, 6, 10, 13) und eine
Personifikation (V.14) um die Stadt mit der Natur bzw. die Natur mit dem Mensch zu vergleichen. Ein besonderes Stilmittel
findet sich in Vers 9. Mithilfe der Synästhesie wird eine akustische Wirkung erzeugt, die mit einem anderen Wort in
Verbindung gesetzt wird.
Ein Lyrisches Ich gibt sich im Gedicht nicht zu erkennen, sodass von einem auktorialen (Allwissendem) Erzähler ausgegangen
werden kann. Die Erzählhaltung ist dementsprechend neutral und fast wertfrei.
Setzte ich meine Analyse mit der anfänglichen Interpretationshypothese auseinander, so wurde Ich zum größten Teil bestätigt.
Es handelt sich um eine indirekte Kritik an der Großstadt, in der die Situation mit zahlreichen Vergleichen mit der Natur
(spezifisch mit dem Meer und Umgebung) dargestellt wird.
Im Gegensatz zu Zeitnahen Gedichten wie jene von Georg Heym oder Jakob van Hoddis beschreibt Oskar Loerke die Stadt nicht
so Apokalyptisch-bedrohlich. Zwar kritisiert er das Schicksal der Städter, in dem man unwiderruflich hineingeboren wird,
aber trotzdem gewinnt er ihr positive Seiten ab. Das Gedicht hat die Wirkung, dass sich das Lyrische Ich mit seinem
Schicksal abfindet und nun die positiven Dinge der Stadt sucht. Die Überschrift wirkt harmonisch und faszinierend,
sodass von einer akuten Bedrohung keine rede sein kann.