Blauer Abend in Berlin - Oskar Loerke

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1. Der Himmel fließt in steinernen Kanälen
2. Denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen
3. Sind alle Straßen, voll vom Himmelblauen.
4. Und Kuppeln gleichen Bojen, Schlote Pfählen

5. Im Wasser. Schwarze Essendämpfe schwelen
6. Und sind wie Wasserpflanzen anzuschauen.
7. Die Leben, die sich ganz im Grunde stauen,
8. Beginnen sacht vom Himmel zu erzählen,

9. Gemengt, entwirrt nach blauen Melodien.
10. Wie eines Wassers Bodensatz und Tand
11. Regt sie des Wassers Wille und Verstand

12. Im Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen.
13. Die Menschen sind wie grober bunter Sand
14. Im linden Spiel der großen Wellenhand.

Gedichtprofil

Allgemein
Name: Blauer Abend in Berlin
Autor: Oskar Loerke
Veröffentlicht: 1911
Epoche: Expressionismus
Gattung: Stadtlyrik

Formal
Verse: 14
Strophen: 4
Metrum: fünfhebiger Jambus
Reimschema: abba, cddc, eff, eff
Reimart: umarmender Reim, Schweifreim
Kadenz: überwiegend weiblich

Sprachlich/Stilistisch
Wortfelder: Natur, Stadt, Mensch
Adjektive: steinern, steilrecht, grob, bunt
Tempus: Präsens
Stilmittel: Metapher (V.1,3,7,8), Enjambement (V.4-5,8-9,11-12), Vergleich (V.6,10,13) Synästesie (V.9), Personifikation (V.14)

Erzähler
Lyrisches Ich: Nein
Perspektive: Auktorial
Haltung: neutral

Analyse und Interpretation


Das Sonett "Blauer Abend in Berlin" von Oskar Loerke zur Zeit des Expressionismus verfasst und veröffentlicht, handelt über einen Vergleich der Stadt mit dem Wasser.

Nach meinem ersten Leseverständnis versucht Oskar Loerke mit seinem Gedicht zu beschreiben, wie einförmig und vorbestimmt das Leben in der Großstadt ist. Dabei kann man sich nicht aus seinem Schicksal entreißen, sondern muss sich in die Masse des Stadtlebens einreihen.

Die erste Strophe schildert die kurvenlosen Straßen in der Stadt (V.2). Geradlinig laufen sie durch die Metropole zwischen den Häusern entlang. Dabei gleichen die Kuppeln mancher Bauwerke den Bojen auf dem Meer und die Schornsteine (Schlote) den Pfählen im Wasser (V.4).
Das zweite Quartett beschreibt die Luftverschmutzung der Fabriken (V.5) und die Menschen, wie sie auf engstem Raum leben (V.7) und dabei von besseren Dingen träumen (V.8).
Im folgenden Terzett wird die Willkür einer höheren Macht deutlich (V.10), die die Menschen (Sie realisieren es zwar, sind dieser Macht aber ausgeliefert) nach Belieben beherrscht.
So sind die Menschen im abschließenden Terzett zwar alles Individuen, sind aber im System fest verankert und müssen sich der höheren Macht beugen (V.13; 14).

Das klassische Sonett, wie es hier von Oskar Loerke angewandt wird, besteht aus 14 Versen. Diese sind in zwei Quartette und zwei Terzette aufgeteilt, sodass eine Inhaltliche und Formale Zäsur (Einschnitt) in dem Gedicht entsteht. Des Weiteren liegt ein fünf-hebiger Jambus mit weiblichen Kadenzen vor. Das Reimschema lautet abba, cddc, eff, eff. Demnach liegt in den Quartetten ein umarmender Reim vor. In den beiden Terzetten, deren Reime Strophen-übergreifend sind, ist ein Schweifreim gegenwärtig.

Im ersten Vers beginnt Loerke metaphorisch mit der Beschreibung der Stadt. Die Steinernen Kanäle stehen für die riesigen Gebäude, die so hoch in den Himmel ragen, dass der Himmel darin fließen kann (V.1). Der Mensch greift demnach in die Natur ein und pflastert sie mit Gebäuden und Straßen zu (V.2), sodass die Natur an sich zwar noch existiert, aber unter der Obhut und der Macht des Menschen steht (V.3). Auch im vierten Vers beschränkt sich Loerke mit dem Vergleich von Stadt und Wasserlandschaft um dem Leser die Landschaft bildhafter zu verdeutlichen. Die großen Kuppeln (V.4) der Gebäude gleichen den Bojen, die auf dem Meer den Seefahrern den Weg weisen, aber primär zum Schutz vor Kollisionen und unsichtbaren Risiken aufgestellt werden. So wirken die Bojen bedrohlich, denn sie warnen vor nicht absehbaren Gefahren.

Durch die Schornsteine (Schlote), die den Holzpfählen im Wasser ähnlich sehen, könnte diese zwar nicht ganz unsichtbare, aber absehbare Gefahr ausgehen. Das Enjambement zwischen den Versen vier und fünf verbindet die beiden Strophen und es geht mit dem Vergleich der Stadt und dem Meer, auch im zweiten Quartett weiter.

Eine Interpunktion (V.5), bedingt durch das Enjambement, stört zu Beginn den fließenden Ablauf des Gedichts, sodass sich volle Aufmerksamkeit den darauf folgenden Worten widmet. Die bedrohlichen Schwarzen Essendämpfe (der Rauch der Schornsteine) qualmen in Vers 5 vor sich hin und werden mit Wasserpflanzen (V.6) verglichen. Dadurch wird die eigentliche Gefahr in etwas Harmloses umgemünzt, dass man beruhigt und faszinierend beobachten kann.

Menschen die auf engstem Raum leben und sich in dem begrenzten Platz der Stadt aufhalten (V.7), träumen von einem besseren und reizvollen Leben in Freiheit (V.8). So verdeutlicht der frappante Gegensatz zwischen den "Schwarzen Essendämpfe" (V.5) und dem imponierenden "Himmel" (V.8) zuerst die bittere Realität und dann den Wunsch, dieser Wirklichkeit zu entfliehen.

Ein akustisches Stilmittel (Synästhesie), das die Farbe Blau und Melodien verbindet, eröffnet das erste Terzett. Die Menschen werden von etwas Übersinnlichen beherrscht und geleitet, da das Blaue für die Beziehung zwischen Irdischem und Überirdischem steht. Also für die Welt, die aus vielen Menschen besteht und für einen Gott, der über jeden dieser Menschen wacht. Jedoch werden die Menschen in der Stadt nicht als Individuum, sondern als Masse betrachtet, die nun hilflos und ohne Chance auf ein entrinnen aus der Stadt, als "Bodensatz und Tand" (V.10) "Umherrschwimmen". (Unter Tand versteht man etwas ansehnliches was aber ohne Wert ist)

In der letzten Strophe läuft alles erneut auf die Willkür und Verfallenheit hinaus, die alle "Stadtmenschen" unterliegen. "Im Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen" (V.12) läuft ein immer wiederkehrender Prozess ab, aus den man sich nicht befreien kann. Monoton und gleichzeitig gefangen in einem ewigen Kreislauf gibt es nicht den einzelnen, sondern nur das kollektiv (V.13 "grober, bunter Sand).

Harmonisch endet das Gedicht dann auch mit der Personifikation der linden und schonenden Wellenhand, die mit Bedacht die totale Kontrolle über die Stadt und die darin lebenden Menschen zu haben scheint.

Untersucht man die Wortfelder so gibt es insgesamt zwei große, und ein kleines Spektrum von angewandten Wortgruppen. Im direkten Gegensatz steht die Natur (Himmel, Wasser, Wasserpflanzen, Bodensatz, bunter Sand) und die Stadt (Kanäle, Straßen, Kuppeln, Schlote, Essendämpfe). Inmitten dieser "Rivalität" finden sich im letzten Terzett Menschliche Attribute (Mensch, Wellenhand).

Wie schon die Wortfelder haben auch die Adjektive zwei Gegensätze. So dominieren zwar überwiegend dynamische Adjektive (fließend, steil, schwelend) jedoch stehen ihnen statische Adjektive gegenüber (steinern, gemengt). Fortführend lassen sich noch Adjektive finden die etwas im Kollektiv beschreiben (grob, bunt, gemengt, groß). Das verstärkt die Wirkung des unwichtigen Menschen als Einzelwesen.

Rhetorische Stilfiguren benutzt Loerke zahlreich. So beginnt er das Gedicht mit der Metapher "Der Himmel fließt in steinernen Kanälen" und verknüpft dabei zwei unterschiedliche Bildbereiche (Natur - Stadt). Ein Enjambement (Zeilensprung) lässt sich zwischen den beiden Quartetten finden. Im Übrigen verwendet Loerke viele Vergleiche (V. 4, 6, 10, 13) und eine Personifikation (V.14) um die Stadt mit der Natur bzw. die Natur mit dem Mensch zu vergleichen. Ein besonderes Stilmittel findet sich in Vers 9. Mithilfe der Synästhesie wird eine akustische Wirkung erzeugt, die mit einem anderen Wort in Verbindung gesetzt wird.

Ein Lyrisches Ich gibt sich im Gedicht nicht zu erkennen, sodass von einem auktorialen (Allwissendem) Erzähler ausgegangen werden kann. Die Erzählhaltung ist dementsprechend neutral und fast wertfrei.

Setzte ich meine Analyse mit der anfänglichen Interpretationshypothese auseinander, so wurde Ich zum größten Teil bestätigt. Es handelt sich um eine indirekte Kritik an der Großstadt, in der die Situation mit zahlreichen Vergleichen mit der Natur (spezifisch mit dem Meer und Umgebung) dargestellt wird.
Im Gegensatz zu Zeitnahen Gedichten wie jene von Georg Heym oder Jakob van Hoddis beschreibt Oskar Loerke die Stadt nicht so Apokalyptisch-bedrohlich. Zwar kritisiert er das Schicksal der Städter, in dem man unwiderruflich hineingeboren wird, aber trotzdem gewinnt er ihr positive Seiten ab. Das Gedicht hat die Wirkung, dass sich das Lyrische Ich mit seinem Schicksal abfindet und nun die positiven Dinge der Stadt sucht. Die Überschrift wirkt harmonisch und faszinierend, sodass von einer akuten Bedrohung keine rede sein kann.