Das expressionistische Gedicht "Städter" von Alfred Wolfenstein 1914 veröffentlicht, handelt
über die Einsamkeit der Stadtmenschen.
Nach meinem ersten Leseverständnis möchte Alfred Wolfenstein mit seinem Gedicht ausdrücken,
wie sich die Gesellschaft, trotz des engen Miteinanders, anonymisiert hat. Das Leben findet
nicht mehr in der Gemeinschaft, sondern isoliert in den Gedanken statt.
In der ersten Strophe wird die triste und enge Stadt beschrieben. Die Häuser stehen dicht aneinander,
sodass sich die Menschen gedrängt auf den schmalen Straßen aufhalten.
Die zweite Strophe handelt über die Situation in den Straßenbahnen. Man sitzt dort hilflos und ist den
neugierigen Blicken der Mitfahrer machtlos ausgeliefert.
Dass man auch in seinem Haus nicht privat ist, macht die dritte Strophe deutlich. Nachbarn hören alles
und nehmen am nicht öffentlichen Leben eines jeden Teil.
Das zweite Terzett macht unverkennbar, wie allein man trotz dieser übertriebenen Nähe eigentlich ist.
Das typische Sonett besteht aus zwei Quartetten (Vier Verse), sowie zwei Terzetten (Drei Verse). Insgesamt
sind also 14 Verse vorhanden. In den Quartetten liegt ein umarmender Reim im Schema abba vor. Die beiden
Terzette weisen eine verbundene Reimstruktur auf ( abc, cab). Summa sumarum lautet das Reimschema demzufolge
abba, cddc, efg, gef.
Darüber hinaus ist das Metrum ein fünfhebiger Trochäus und die Kadenzen sind unregelmäßig.
Die erste Strophe beginnt prompt mit einem schmälernden Vergleich, um die Enge in der Stadt zu demonstrieren.
Das Sieb (V.1) wirkt in seinem Vergleich derart, als würden die Häuser in einem großen Terrain dicht beieinander
stehen, in dem die Natur und alles andere überflüssig ist. Pragmatisch bedrückend sind auch die Fenster (V.2),
die verzweifelt versuchen ihren Platz in der langen Kette und riesigen Vielfalt an Facetten zu finden. Übertragen
lässt sich die Beschreibung von Wolfenstein auf den Mensch, zur Zeit des Expressionismus. Die zahlreichen
Individuen hatten es sichtlich schwer, einen Platz in dieser wandelnden Gesellschaft zu finden. Zusammenfassend
war die Stadt ein Ort, in der viele unterschiedliche Persönlichkeiten miteinander lebten und auskommen mussten.
Der Anblick der Straße leidet offensichtlich unter den vielen Häusern, die die Straße zu einem Fremdkörper machen
und sich widerwillig in das Gesamtbild der verkommenen Häuser einfügen müssen (V.4).
In der zweiten Strophe wird nicht mehr auf den Lebensraum des Städters eingegangen, sondern die Anonymität
mittels eines alltäglichen Beispiels aus der Bahn verdeutlicht. Die damaligen Trams (Straßenbahnen) waren derart
konstruiert, dass man seinem Gegenüber starr und unbeweglich gegenübersaß. Das Gedicht stellt dementsprechend
zwei Personen dar, die sich in der Straßenbahn gegenüber sitzen. Die Gesichtsausdrücke werden depersonifiziert
und als banale Fassaden (V.6) beschrieben, die die Einzigartigkeit des Menschen verkennen lassen. Kritisch
betrachtet versucht (nach Wolfenstein) der Mensch seine Gefühle hinter einer "mainstream" Front zu verstecken,
um die Individualität im Kopf weiterhin zu bewahren.
So sitzen beide Personen gefangen (V.5) ihrem Schicksal gegenüber und schauen in ihr Spiegelbild, dass ihnen die
traurige Realität der Einsamkeit aufzeigt. Durch ihre Unbeweglichkeit (Körperlich durch die engen Sitze und Gedanklich
durch ihr Massendenken) kommt es nur zu versuchten Blicken (V.7), die nur einen schwachen nonverbalen Kommunikationscharakter
haben.
Die zweite Strophe fällt besonders durch ihre internierende Wortwahl auf. Beide Personen sind sich körperlich zwar nah
(Ineinander (V.5,8) ; hineingehackt (V.5)), geistlich aber fern.
Das erste Terzett lässt sich dann mit Rückbezug auf die Quartette synthetisch deuten. Bezogen auf das erste Quartett
bedeutet der Vergleich (V.9 "Unsere Wände sind so dünn wie Haut") wie räumlich nah man seinen Nachbarn ist. Ein
jeder nimmt zwar Kenntnis von der Traurigkeit seiner Mitmenschen (V.10), jedoch keinen Anteil daran.
Das Bild eines egoistischen expressionistischen Bürgers sticht heraus, der seine Nachbarn (Mitmenschen) wahrnimmt,
ihnen aber keinerlei Beachtung schenkt.
Das zweite Terzett macht aber auch deutlich, dass die Menschen nicht vieles gegen die Lethargie ihres Umfeldes tun,
sondern noch dazu beitragen (V.12). Der dreizehnte Vers verstärkt die Hypothesen aus dem zweiten Terzett. Ein jeder
nimmt Teil (V.10), lässt den Nachbarn aber unangerührt und ungeschaut (V.13).
Fast schon in Selbstmitleid verfallen, wirkt die Pointe von Wolfenstein die den gesamten Inhalt und die Intention des
Gedichtes zusammenfasst. (V.14)
Untersucht man das Gedicht hinsichtlich der verwendet Wortfelder so überwiegen die Elemente der Stadt (Fenster, Häuser,
Straße, Trams, Fassade, Wände). In Verbindung mit den einseitigen Adjektiven, (2x ineinander, dicht, beieinander,
hineingehackt, geschwollen)
die fast ausnahmslos ein beengtes Gefühl beschreiben, wirkt die Stadt bedrohlich und agoraphobisch.
Betrachtet man die verwendeten Stilmittel von Wolfenstein, fallen die besonders häufigen Vergleiche (V.1 "Dicht wie die
Löcher eines Siebes stehen" ; "Unsere Wände sind so dünn wie Haut" ; "Und wie in still in dich verschlossener Höhle) und
Alliteration (V.4 "Grau geschwollen wie Gewürgte" ; V.13 "unangerührt und unangeschaut" ; V.14 "fern und fühlt") in den
Fokus. Typisch für den Expressionismus sind diese zahlreichen Verwendungen allemal, mit denen Wolfenstein die Stadt noch
enger und drohender veranschaulicht.
Darüber hinaus gibt die Depersonifizierung im sechsten Vers (die zwei Fassaden) dem Gedicht einen weiteren befremdlichen
Einfluss.
Beziehe Ich nun meine Analyseergebnisse auf die anfängliche Interpretationshypothese, komme ich zu dem Ergebnis das meine
Vermutungen nur bedingt zutrafen. Im Vergleich zu anderen expressionistischen Lyrikern, behandelt auch Alfred Wolfenstein
das Thema der Stadt, geht im Gedicht aber mehr auf die Enge und das abgeschottete Leben des einzelnen ein. Lediglich die
erste Strophe behandelt die Situation der Stadt. Das eigentliche Thema ist wie der Titel des Gedichtes schon aussagt, der
Stadtmensch. So beäugt Wolfenstein nicht nur die Stadt, sondern kritisiert vielmehr den Menschen als Schuldigen seines
Schicksals. Die Einsamkeit resultiert aus dem dicken Panzer (V.12), den jeder mit sich herumträgt und damit versucht keine
Emotionen seiner Mitmenschen an sich heran zu lassen (V.6 "die zwei Fassaden").