In seinem Gedicht „Nachtcafe“ stellt der expressionistische Dichter Gottfried Benn Ideal und Wirklichkeit,
Schein und Wahrheit, Vorstellung und Realität gegenüber. Das lyrische Ich beobachtet das Geschehen in einem
Cafe, das Musizieren von hoher Kunst und das flache Alltagsverhalten der Gäste. Mit gnadenlosen Kommentaren
bewertet das lyrische Ich, was er sieht und entdeckt, was sich hinter „Der Frauen Liebe und Leben verbirgt“.
Das Gedicht besteht aus 24 Zeilen, die ohne festes Muster in Gruppen von 1 zu 5 Zeilen angeordnet sind. Ein
durchgehendes Metrum fehlt. Es steht also von seiner äußeren Form her ganz in der Tradition des Expressionismus,
der inhaltlich sowie formal von Auflösung, Chaos und Orientierungslosigkeit geprägt ist.
Der Titel Nachtcafe weckt sofort Assoziationen an einen verruchten Ort, der von Außenseitern, von Nachtgestalten
besucht wird. Auch fühlt man sich an das gleichnamige Gemälde Van Goghs erinnert. Dort ist das Nachtcafe ein
gefährlicher, Verderben bringender Ort.
Benn lässt sein Gedicht mit dem Nennen eines Musikstückes beginnen: „824. Der Frauen Liebe und Leben.“ Er meint
damit die romantische Vertonung einer im Jahr 1824 entstandenen Dichtung. Dies wird im folgenden, zunächst absurd
anmutenden Satz deutlich: „Das Cello trinkt rasch mal.“ Benn reduziert hier den Musiker auf sein Instrument, auch
durch die lapidare Bezeichnung der Art und Weise seines Trinkens „mal“ wertet den Musiker ab. Parallel dazu verläuft
der nächste Satz, die Flöte, anscheinend hat sie gerade gegessen und getrunken „rülpst tief drei Takte lang“ und
zwar „das schöne Abendbrot“. Die ironische Verbindung von Rülpsen und musikalischer Qualität desselben bewirkt hier
eine Irritation des Lesers. Durch die Alliteration „tief drei Takte“ wird das Rülpsen dreier Takte in der Form
aufgegriffen. In einem Oxymoron wird Kunst und Alltag, das Schöne und das Hässliche zusammengebracht. Der dritte
Musiker, wieder weist der Satz die gleiche Syntax auf und vollzieht so eine syntaktische Gleichstellung bzw.
Verbindung der Musikanten, „liest einen Kriminalroman“. Er liest bezeichnenderweise keine hohe Literatur, wie
z.B. die Dichtung, die er doch gerade noch spielte. Nach dem Vortragen eines sehr anspruchsvollen und künstlerischen
Musikstückes wird die Pause völlig banal verbracht. Mit Essen, Trinken und stumpfen Zeitvertreib. Das hohe Ideal des
vorgetragenen Stoffes wird hier im krassen Kontrast zu den Menschen gezeigt, die ihn vortrugen.
Die zweite Strophe beschreibt den Gruß einer Person die nur durch „Grüne Zähne, Pickel im Gesicht“ beschrieben wird.
Der Empfänger des Winkens ist eine „Lidrandenentzündung.“ Benn reduziert die Menschen auf äußerliche Merkmale von
Hässlichkeit oder Krankheit. Nicht einmal das Geschlecht, kein Alter wird genannt, die Personen werden nur über diese
Merkmale definiert.
Ähnlich verläuft die nächste Strophe: „Fett im Haar“, also jemand mit Fett im Haar als auffälliges Merkmal spricht zu
„offenem Mund mit Rachenmandel.“ Auffällig ist hier, dass die eine Person zu der anderen spricht, aber nicht mit ihr.
Dies könnte ein Hinweis auf Kommunikationsschwierigkeiten bzw. auf fehlende Kommunikation sein. Die zweite Person trägt
„Glaube, Liebe, Hoffnung um den Hals.“ Sie schmückt sich mit den drei großen christlichen Werten. Das Bild des offnen
Mundes mit Rachenmandel will einfach nicht zu dem Schmuckstück bzw. den Werten, für den es steht, und diese Werte nicht
in diese Umgebung passen. Ein verborgener Gegensatz entspannt sich auch zwischen der Abwärtsbewegung des Rachens, des
Halses und den Symbolen, die in ihrer transzendenten Bedeutung nach oben deuten.
Wieder greift Benn eine Beziehung auf: „Junger Kropf ist Sattelnase gut“ Als Folge: „Er bezahlt für sie drei Biere.“
Wieder eine Reduzierung auf physische Merkmale, diesmal allerdings erfährt man noch das Alter des einen und kann die
Geschlechter zuordnen. Der Mann bezahlt die Getränke der Sattelnasenfrau. Hier scheint das Motiv der indirekt oder
auch direkt käuflichen Liebe durch.
Ein Bartgeflecht kauft Nelken; ein ungepflegter, vermutlich älterer Mann kauft Nelken, um die Begleiterin, das
Doppelkinn, zu erweichen. Dieses Bild ist dadurch nicht logisch, dass ein Doppelkinn naturgemäß schon weich ist.
Der Versuch des Mannes ist daher sinnlos, er wird sein Ziel nicht erreichen, oder er wird es nur in Täuschung erreichen.
Nachdem der Blick des Beobachters über die Anwesenden geschweift ist, fängt die Musik wieder an: „B-moll: die 35. Sonate.“
Die unmittelbare Folge: „Zwei Augen brüllen auf“, d.h. ein Anwesender empört sich über das, was er sieht, wieder
wird ein Mensch auf einen Teil reduziert und diese Teile ihrerseits personifiziert.
Dessen Ausruf erklärt den Grund der Empörung: Er ist wütend, dass das Publikum des Meisterwerks nicht würdig ist.
Auf Chopins Mühen, die er hatte, das Werk trotz Krankheit zu verfassen, wird hier mit Füßen getreten, das „Pack
latscht darauf herum“. Der Kritiker scheint aber selbst zu diesem Pack zu gehören, wie man an dessen Wortwahl
erkennt. Er bricht die Musik grob ab und begrüßt eine eintretende Frau, ebenfalls recht unhöflich: „He, Gigi!“
Der Gedankenstrich zeigt einen Moment des Verharrens an. Der Grund, warum die Zeit kurz stehen bleibt, ist die
Erscheinung der Frau, dem lyrischen Ich kommt es vor, als ob die Tür dahinfließt, sich wie von Zauberhand leicht
öffnet, als habe diese Frau keine physische Kraft nötig, um die Tür zu öffnen; sie scheint ihm von Anfang an
etwas Außergewöhnliches zu sein. Hinein kommt „ein Weib“. Der elliptische Satzbau hier und im direkt Folgenden
lässt erkennen, wie unmittelbar und berührt das lyrische Ich auf Gigi reagiert. Die Sprachverknappung, die auch
schon vorher starke Verwendung fand, verhindert jede schweifende Ästhetik, jedes Abgelenkt- Werden von den
zentralen Botschaften des Autors.
Sie wird mit „wüste ausgedörrt, kanaanitisch braun“ beschrieben. Beides weist auf eine orientalische Herkunft
hin, wie auch der Name exotischen Klang besitzt. Der Vergleich mit Kanaan, dem biblischen Land, in dem Milch
und Honig fließt, lässt sie als geheimnisvoll und als etwas sehr Besonderes erscheinen, als etwas Übernatürliches.
Das Adjektiv „keusch“ steht im totalen Kontrast zu der Umgebung. „Höhlenreich“ bedeutet gleichzeitig reich an
Körpererhebungen, also betonte weibliche Figurformen. Mit ihr kommt ein Duft, verfliegt aber sofort wieder.
Das Parfüm, das das lyrische Ich berauscht, hat sich schnell in Nichts aufgelöst. Der Duft war nur eine „süße
Vorwölbung der Luft gegen mein Gehirn“. Die Liebe ist eine Täuschung des Gehirns, auch hier wird die Liebe wieder
desillusioniert. Der Mediziner Benn setzt den Ort der Liebe ins Gehirn, nicht z.B. in das Herz.
Der Moment außerhalb von Zeit und Ort ist vorüber.
Wieder wird ein Besucher des Cafes karikariert: „eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.“ Trippeln weist auf
kleine Schritte hin, Fettleibigkeit steht im Gegensatz zu sachten Schritten.
Ein letztes Mal werden Menschen entmenschlicht. Sie ähneln eher Tieren (das Trippeln erinnert eher an die Schritte
eines kleinen Hundes) oder Dingen, werden nur durch äußere Auffälligkeiten voneinander abgegrenzt. Nur ein Teil von
ihnen bestimmt, was sie sind. Zwischen ihnen gibt es keine Besonderheiten, alle sind gleich viel wert, sind nichts wert.
Es ist nur einen anonyme Masse ohne eigene Identität, ein grober Haufen, der primitiv im Cafe sitzt und sich stumpf die
Zeit vertreibt.
Das gesamte Gedicht ist auf Antithesen aufgebaut: Dem Gegensatz zwischen hoher Kunst und niedriger Realität; der
idealisierten Liebe im romantischen Gedicht oder in der schnell verflogenen Täuschung des lyrischen Ichs und der
Wirklichkeit der Liebe, geprägt durch Materielles, Hässlichkeit und Alkohol. Selbst diejenigen, die die Kunst
vortragen, fallen nach erledigter Arbeit sofort wieder in nüchternen Alltag zurück.
Die Reduzierung der Menschen auf unästhetische Merkmale wirkt spöttisch, so wie ihre Beziehungen untereinander
geschmacklos und abgeschmackt erscheinen. Hier ist nichts von dem Ideal der Liebe zu spüren.
Das Ideal der Liebe wird in dem christlichen Symbol nochmals aufgegriffen. Dieses Ideal, das neben der
ästhetischen auch noch eine moralische Komponente besitzt, wird einerseits durch die dumpfe Wirklichkeit
widerlegt, es ist nur Schmuck, anderseits baut es auch erst den Kontrast zur Wirklichkeit auf, ohne diese
konträre Ideal, erschiene die Realität weniger entwertet, entidealisiert und unästhetischer.
Benn nimmt jeden Schein von seiner Darstellung, bildet ohne Mitleid die Wirklichkeit, wie er sie sieht, ab.
Die ideale Liebe, wie sie ihm einen Moment als Illusion begegnet, scheint in seiner Welt des Nachtcafes nicht
zu existieren, sie scheint nur ein Produkt der Kunst, der Einbildungskraft des Menschen.
Benn protestiert gegen das Festhalten an überzogenen Idealen und Werten, die nur fern jeder Realität existieren.
Allerdings scheint es nicht, als wollte er das Ideal der Schönheit oder der Kunst ganz aufgeben; er will es nur
nicht als alltagstauglich und vollständig realisierbar verstanden sehen, sondern als Ideal, als bewussten
Gegensatz zur Wirklichkeit. Er wehrt sich gegen den Schein, den der Mensch über alles legt, um seine Hässlichkeit
nicht sehen zu müssen, gegen eine Schönfärberei, die trotz der Mühen das wahre Sein nicht übertünchen kann.
So trivial das Verhalten der Menschen ist, so einfach ist auch die syntaktische Struktur, die die Eindrücke
gnadenlos und einfach in Worte fasst. Die Monotonie, die Tristes dieser faden, langweiligen Alltagsnacht mit
ihren abgeschmackten Menschen und Beziehungen spiegelt sich so auch im Satzbau wider.
Der Reihungsstil, die Aneinanderreihung von nicht zueinanderpassenden Bildern beschreibt das Chaos, das unter
anderem durch den Zerfall der Werte z. B. auch der christlichen entstanden ist. Es gelingt nicht mehr die
einzelnen Beobachtungen des lyrischen Ichs in eine zwingend logische Beziehung zu bringen, die kurzen Parataxen
stehen sich isoliert gegenüber. Ein Spiegelbild des Großstadtlebens.
Wie typisch für den Expressionismus schreibt auch Benn aus einem stark subjektiven Blickwinkel. Das Individuum
trifft auf eine ungeordnete Welt, die es nun interpretieren muss. Um die Reaktion auf diese Welt nun aber
auszudrücken, gebraucht das Individuum auch eine individuelle Bildsprache; Metaphern, die mit jeder Tradition
brechen, aber da jede Tradition mittlerweile nutzlos geworden ist, sich dem, was der Dichter auszudrücken
versucht, am meisten annähern.
Das Ich steht der Umwelt fremd und verloren gegenüber. Die Eindrücke prasseln auf ihn ein, es verharrt regungslos
und bleibt passiv. Es ist hilflos den anderen Menschen, einer faden Umwelt ausgeliefert. Die Zivilisation, das
Leben in der Großstadt scheint bedrohlich aus Sicht des anonymen Betrachters.
Es zeigt sich eine Gespaltenheit zwischen dem Körper, dem was der Mensch notwendigerweise ist, und dem Geist,
der zeigt, wie er sein könnte. Die Kluft zwischen Kunst und Realität ist auch die Kluft in jedem Ich selbst,
das fortwährend die Wirklichkeit an Idealen misst und nach Verwirklichung dieser Ideale strebt. Der Gegensatz
zwischen Wollen und Können, Ziel und Realisierung spaltet die Persönlichkeit. Es herrscht permanente Anspannung
und innerer Kampf zwischen leichtem Träumen- Können und unerbittlichem Wachsein- Müssen.
In der Atmosphäre dieses Nachtcafes ist das Ich gefährdet, es erkennt was der Tag hell verbirgt, im kalten Licht
sieht er nackte Wirklichkeit, die den Schein wegwischt und zeigt, was wahrhaft ist. Dieses „ist“ aber wäre voll
Resignation, Wut, Sinnlosigkeit, so dass Ideale unverzichtbar sind, die aus dem, was ist, das machen, was wird.
Es bleibt die Frage, ob das Ideal so schön ist, weil die Realität so hässlich ist, oder die Realität so hässlich,
da das Ideal so schön.